Am 24.09.2017 findet die nächste Bundestagswahl in Deutschland statt und ich war noch nie so ratlos, welcher Partei ich meine Stimme geben soll. Als rational denkender Bürger mache ich meine Entscheidung zur Stimmabgabe in erster Linie von den Fakten zur Entwicklung unseres Landes abhängig und erst in zweiter Linie von den Wahlprogrammen und Versprechungen der Parteien, denn die Halbwertszeit der politischen Absichtserklärungen in Wort und Schrift war in der Vergangenheit nach meinem Empfinden eher übersichtlich.
Auf den ersten Blick geht es der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Staat auf Ebene der makroökonomischen Kennzahlen gut, wie jeder Bürger anhand der offiziellen Quellen (z. B. Statistisches Bundesamt, Europäische Statistikbehörde, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung) leicht nachvollziehen kann:
- Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in den letzten 16 Jahren um rund 44 % gewachsen (von 2,180 Billionen € in 2001 auf 3,133 Billionen € in 2016).
- Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist in den letzten 16 Jahren um etwas mehr als 9 % gestiegen (von 39,809 Millionen in 2001 auf 43,486 Millionen in 2016) – Hinweis: Im Juni 2017 lag die Zahl der Erwerbstätigen auf dem Rekordniveau von 44,16 Millionen (allerdings arbeiten 22,5 % der Erwerbstätigen unter der Niedriglohnschwelle von 10,50 € brutto pro Stunde).
- Die (offizielle) Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ist in den letzten 16 Jahren um rund 31 % zurückgegangen (von 3,9 Millionen bzw. 9,4 % in 2001 auf ca. 2,7 Millionen bzw. 6,1 % in 2016) – Hinweis: In 2005 lag die Zahl der Arbeitslosen vorübergehend sogar bei ca. 4,9 Millionen bzw. 11,7 %, im Mai 2017 lag sie bei ca. 2,5 Millionen bzw. 5,6 %.
- Die Prognose für das Wirtschaftswachstum ist mit 1,8 % in 2017 im Quervergleich zu anderen entwickelten Industriestaaten ordentlich.
- Das Privatvermögen in Deutschland (bestehend aus Geldvermögen, Grund und Boden; Anlagevermögen und Gebrauchsvermögen) hat sich in den letzten 16 Jahren zwischen 2001 und 2016 um ca. 5,0 Billionen € bzw. rund 57% erhöht (von ca. 8,8 Billionen € in 2001 auf ca. 13,8 Billionen € in 2016).
- Der Außenhandelsüberschuss von 252,4 Milliarden € bescherte Deutschland in 2016 erneut den inoffiziellen Titel des „Exportweltmeisters“.
- Die (offiziellen) Staatsschulden sind zwischen 2001 und 2016 um ca. 75,4% gestiegen (von 1,22 Billionen € in 2001 auf 2,14 Billionen € in 2016), liegen aber mit 68,3 % vom BIP im Vergleich zu vergleichbaren Ländern einigermaßen im Rahmen.
- Der Staatshaushalt ist ausgeglichen bzw. seit 2014 infolge der in den letzten 8 Jahren deutlich gesunkenen Refinanzierungskosten für die Staatsschulden sogar leicht positiv („schwarze Null“).
- Und Deutschland ist einer der großen Profiteure des Euro – so wird es von interessierten Kreisen zumindest oft und gerne behauptet.
Auf den zweiten Blick erkennt man (insbesondere im Quervergleich zu anderen EU- bzw. OECD-Staaten) unter dem glänzenden Lack großflächige Roststellen, die sich negativ auf den sozialen Frieden und die Zukunftsfähigkeit Deutschlands auswirken. Denken Sie einen Moment nach: Können Sie mir einen wesentlichen Bereich der Politik (Rente, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Steuern, Energie, Verteidigung, …) nennen, in dem es in Deutschland in den vergangenen 40 Jahren substanzielle und nachhaltige Verbesserungen für die große Mehrheit der Bürger gegeben hat? Mir fällt keiner ein.
Von so genannten „Reformen“ haben in den letzten 25 Jahren vor allem exportorientierte Unternehmen, Vermögende und Staat profitiert, während Arbeitnehmer und sozial Schwache gar nicht oder nur minimal an der positiven Entwicklung der Wirtschaft und an den Wohlstandszuwächsen partizipiert haben bzw. (zumindest im Quervergleich mit anderen Staaten der EU) sogar Nachteile in Kauf nehmen müssen, z. B. im Hinblick auf Realeinkommen, Renten, Privatvermögen oder Arbeitsplatzsicherheit. Darüber hinaus sind Wohlstand und Zukunft unseres Landes durch erhebliche Risiken aus der Eurozone und dem globalen Finanzsystem gefährdet, wie ich nachfolgend anhand wesentlicher Daten und Fakten belegen möchte.
Als ich mit dem Schreiben dieses Artikels begann, hätte ich nicht erwartet, dass die Liste der Defizite und Fehlentwicklungen so lang werden wird. Dennoch ist es ausdrücklich nicht meine Absicht, den Wirtschaftsstandort Deutschland schlecht zu reden, Zukunftsängste bzw. Sozialneid zu schüren oder gar noch mehr Sozialtransfers zu fordern. Der deutsche Staat und seine Sozialversicherungen geben jährlich bereits rund 918 Milliarden € für Soziales einschließlich Renten und Transferzahlungen aus (Stand: 2016). Dies entspricht knapp 29 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts (davon entfallen rund zwei Drittel auf Renten- und Krankenversicherung sowie auf Pensionen und Beihilfen) und das ist ein Batzen Geld, der zunächst einmal erwirtschaftet werden muss (wobei man auch nicht vergessen darf, dass z. B. die ausgezahlten Renten in der Regel der Wirtschaft wieder in Form von Einnahmen zugutekommen). Jede Medaille hat zwei Seiten und genauso wenig, wie Schwarzmalerei, sollte man Schönfärberei betreiben. Es geht darum, die positiven und negativen Fakten zu kennen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
- HÖHE UND VERTEILUNG DER EINKOMMEN: Das mittlere Einkommen (Median) von Vollzeitbeschäftigten in Deutschland (ohne Selbständige und Freiberufler, die etwa 10% der 44,16 Millionen Erwerbstätigen ausmachen) liegt aktuell bei knapp über 3.000 €/Monat brutto – inklusive Auszubildende und Teilzeitbeschäftigte ergibt sich ein mittleres Einkommen von ca. 2.500 Euro brutto (eine Zeitreihe zur Entwicklung des mittleren Bruttoeinkommens lediger Arbeitnehmer von 1991 bis 2016 findet man hier; die entsprechende Zeitreihe für verheiratete Alleinverdiener mit 2 Kindern findet man hier). 9,934 Millionen (22,5 %) der 44,16 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland liegen mit ihrem Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle von 10,50 € brutto pro Stunde (ich gehe darauf in Punkt 7 etwas ausführlicher ein). Demgegenüber gab es in 2013 laut dem Statistischen Bundesamt ca. 17.400 Einkommensmillionäre mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von ca. 2,7 Millionen € brutto (Hinweis: Die Ergebnisse der Lohn- und Einkommensteuerstatistiken sind aufgrund der langen Fristen zur Steuerveranlagung laut dem Statistischen Bundesamt erst etwa dreieinhalb Jahre nach Ende des Veranlagungsjahres verfügbar). 44,5 % der Bürger erzielen ihr überwiegendes Einkommen aus Erwerbstätigkeit, 4,5 % sind überwiegend auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch I und II angewiesen (also Arbeitslosengeld I und II, Hartz IV), 26,3% leben überwiegend von Renten, Pensionen etc. und 24,7% werden überwiegen durch Angehörige versorgt.
- ENTWICKLUNG DER REALLÖHNE: Die Entwicklung der Reallöhne (also Bruttolöhne abzüglich Inflation) in Deutschland ist im Vergleich zur Entwicklung der Reallöhne in den anderen EU-Staaten ernüchternd: Es gibt nur drei EU-Staaten (Griechenland, Portugal, Österreich), in denen die Reallöhne zwischen 2001 und 2016 weniger stark gestiegen sind, als in Deutschland, wo der Anstieg bei sehr übersichtlichen 3,35 % über den gesamten 16-Jahres-Zeitraum lag. Im Vergleich zur Entwicklung der inflationsbereinigten Unternehmensgewinne in Deutschland fällt die Entwicklung der Reallöhne in Deutschland noch kärglicher aus: Betrachtet man den 26-Jahres-Zeitraum zwischen 1991 und 2016, so steht in Deutschland einer übersichtlichen Steigerung der Reallöhne in Höhe von 9 % (das sind weniger als 0,35 % pro Jahr) eine recht ordentliche Steigerung der inflationsbereinigten Unternehmensgewinne von Kapitalgesellschaften von 76 % (das sind 2,2 % pro Jahr) gegenüber. Die inflationsbereinigten Unternehmensgewinne von Kapitalgesellschaften ohne Banken und Versicherungen sind in diesem 26-Jahres-Zeitraum sogar um beachtliche 105 % gestiegen (das sind 2,8 % pro Jahr).
- HÖHE DER STEUERN&ABGABEN: Die deutschen Arbeitnehmer zahlen die zweithöchsten Steuern und Abgaben unter sämtlichen OECD-Staaten (z. B. 49,4 % Abzüge bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer in Deutschland vs. 21,8 % in der Schweiz bzw. 36 % im Durchschnitt aller OECD-Staaten) – ein in Vollzeit beschäftigter Arbeitnehmer in Deutschland mit einem mittleren Bruttoeinkommen (Median) von 36.000 €/Jahr hat dadurch eine Mehrbelastung von satten 4.824 €/Jahr im Vergleich zu einem OECD-Arbeitnehmer zu tragen. Ab einem jährlichen zu versteuernden Einkommen von 53.666 € (das entspricht 4.472 €/Monat) greift der Spitzensteuersatz. Dies bedeutet, dass jeder Euro, der über dieser Grenze liegt, mit 42% versteuert wird (für Ehepaare gilt der doppelte Wert, d. h. die Grenze liegt hier entsprechend bei 107.332 €). Zwei Drittel des Benzinpreises und sogar drei Viertel des Strompreises bestehen aus Steuern und Abgaben – das sind Belastungen, die fast jeden Bürger treffen. OECD-Studien zeigen, dass für die hohe Belastung hierzulande nicht die Einkommensteuer verantwortlich ist. Deutschland ist im internationalen Vergleich kein Hochsteuerland, allerdings sind die Sozialabgaben hierzulande weit höher als in anderen wohlhabenden Volkswirtschaften. Hinweis: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist eine internationale Organisation mit 35 Mitgliedstaaten, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Die meisten OECD-Mitglieder gehören zu den Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen und gelten als entwickelte Länder.
- STEUERRECHT/-SYSTEM: Das komplexe deutsche Steuerrecht mit seinem Wust von zigtausenden Normen und Paragraphen begünstigt Steuerhinterziehung und -vermeidung. Fachleute schätzen, dass dem deutschen Fiskus dadurch ca. 100 Milliarden € pro Jahr an Steuereinnahmen entgehen. Durch rein steuerlich motivierte Aktiengeschäfte rund um den Dividendenstichtag (sogenannte Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte) sind dem deutschen Staat zwischen 2001 und 2016 nach Schätzungen des Finanzwissenschaftlers Christoph Spengel von der Universität Mannheim mindestens 31,8 Milliarden € entgangen. Es hat 20 (!) Jahre gedauert, bis der Staat in 2012 die Schlupflöcher endlich geschlossen hat. Negativ wirkt sich bei normalverdienenden Arbeitnehmern die so genannte „Kalte Progression“ aus, also die Steuermehrbelastung, die im zeitlichen Verlauf entsteht, wenn die Eckwerte eines progressiven Steuertarifs nicht an die Inflationsrate bzw. an die Einkommensentwicklung angepasst werden, so dass Erhöhungen der Tariflöhne aus Sicht des Arbeitnehmers durch höhere Steuern und die Inflationsrate aufgezehrt werden.
- RENTEN: Das Nettorentenniveau vor Steuern ist seit 1990 kontinuierlich gesunken: von 55,1 % in 1990 und 52,9 % in 2000 auf 47,7 % in 2015; nach den Vorausberechnungen der Bundesregierung wird es bis 2030 auf 44,5 % fallen. Ursächlich für diesen kontinuierlichen Rückgang sind vor allem die Veränderungen bei der Rentenanpassung (insbesondere der 2001 eingeführte Riester-Faktor und der Nachhaltigkeitsfaktor). Die Untergrenze dieser Abflachung ist per Gesetz („Niveausicherungsklausel“) für das Jahr 2030 auf 43 % beziffert. Für die Zeit danach gibt es keine „Haltelinie“ mehr. Die so genannte „Standardrente“ aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach 45 Jahren mit dem jeweiligen Durchschnittseinkommen liegt mit 1.370 €/Monat (neue Bundesländer: 1.290 €/Monat) in den alten Bundesländern um gerade mal 453 € über der Armutsgrenze (neue Bundesländer um 373 €) – wobei zu beachten ist, dass die Renten seit 01.01.2005 „nachgelagert“ besteuert werden. Viele Versicherte in der gesetzlichen Rentenversicherung müssen sogar mit wesentlich niedrigeren Altersrenten als der Standardrente rechnen. So lag der durchschnittliche Auszahlungsbetrag der Versichertenrenten am 01.07.2014 bei 1.061 € (Männer) bzw. 770 € (Frauen) in den alten Bundesländern und bei 993 € (Männer) bzw. 532 € (Frauen) in den neuen Bundesländern. Laut dem Statistischen Bundesamt können ca. 19,5 Millionen Arbeitnehmer, deren Bruttolohn unter 2.330 €/Monat liegt, im Alter nur mit einer gesetzlichen Rente auf dem Grundsicherungsniveau von derzeit 795 € rechnen (das sind ca. 44 % der aktuell ca. 44,16 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland). Da die bereits eingeleiteten Kürzungen des Rentenniveaus nicht ausreichen, um die gesetzliche Altersversorgung unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung aufrecht zu erhalten, müssen die Menschen in Deutschland außerdem Jahr für Jahr später in Rente gehen: Das Renteneintrittsalter wird ausgehend von 65 im Jahr 2012 auf 67 ab dem Jahr 2031 erhöht. Ökonomen fordern bereits die Rente ab 70.
- PRIVATVERMÖGEN: Die (durchschnittlichen) Privatvermögen in Deutschland sind laut einer Studie der Europäischen Zentralbank aus 2013 wesentlich geringer, als in anderen großen EU-Staaten (Deutschland: 51.400 €, Frankreich: 113.500 €, Spanien: 178.300 €, Italien: 163.900 €) und zudem noch extrem ungleich verteilt (in Deutschland besitzen die reichsten 10 % der Bevölkerung 60 % des Privatvermögens, während die ärmsten 50 % nur 2,5 % besitzen). Die Schere zwischen denen, die viel besitzen und denen, die wenig haben, ist in Deutschland größer, als in den meisten anderen Ländern: Laut dem Global Wealth Data Book der Credit Suisse lag Deutschland im Jahr 2016 bei der Ungleichheit der Vermögensverteilung mit einem so genannten „Gini-Koeffizienten“ von 0,79 auf Platz 117 von 172 untersuchten Ländern (0 = totale Gleichverteilung des Geldes; 1 = ein Haushalt besitzt alles, der Rest nichts). 22 von 28 EU-Mitgliedsstaaten haben eine weniger ungleiche Verteilung des Vermögens, als Deutschland, das sich auf dem Niveau von Togo und Marokko bewegt. Und die Ungleichheit in Deutschland wächst: 2013 lag der Gini-Koeffizient in Deutschland etwa noch bei 0,77.
- WOHNEIGENTUM&IMMOBILIENPREISE: In Deutschland besitzen nur rund 43 % der Bürger Wohneigentum, während es im Rest von Europa 70 bis 90 % sind; ca. 57 % der Deutschen wohnen zur Miete. Mieter und Immobilienkäufer wurden infolge der ultralockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) in den vergangenen Jahren mit zum Teil drastischen Erhöhungen der Immobilienpreise konfrontiert – vor allem in den Großstädten (in München sind z. B. in den 12 Jahren zwischen 2004 und 2016 die Kaufpreise um 117 % angestiegen und die Mietpreise um 45 % – das sind durchschnittlich 6,7 % bzw. 3,2 % pro Jahr).
- ARBEITSLOSIGKEIT&LEIHARBEIT&NIEDRIGLOHN: Die offizielle Arbeitslosenstatistik in Deutschland ist geschönt, so dass 911.178 Menschen bzw. 26,4 % der tatsächlichen Arbeitslosen per 31.08.2017 dort nicht oder nur als Fußnoten ausgewiesen werden (2.544.845 offizielle Arbeitslose vs. 3.456.023 tatsächliche Arbeitslose). Die Zahl der Leiharbeiter in Deutschland hat sich innerhalb von 23 Jahren fast verneunfacht (von 114.000 in 1993 auf 991.000 in 2016). 1,1 Millionen abhängig Beschäftigte in Deutschland beziehen ergänzende Hartz-IV-Leistungen (so genannte „Aufstocker“) und 2,66 Millionen Menschen müssen einem Zweitjob nachgehen. Der Anteil der Arbeitnehmer, die in Deutschland einen Niedriglohn beziehen, ist im europäischen Vergleich hoch (Hinweis: Niedriglohn ist nicht zu verwechseln mit dem Mindestlohn). So liegen 9,9 Millionen der Erwerbstätigen in Deutschland (das sind 22,5%) mit ihrem Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle von 10,50 € brutto pro Stunde. Zum Vergleich: In der Eurozone kommen insgesamt nur 15,9 % der Arbeitnehmer mit Niedriglohn nach Hause, diese haben aber mehr in der Tasche als deutsche Niedriglöhner, denn in der Eurozone beginnt der Niedriglohn erst unterhalb von 14,10 € brutto pro Stunde. In der gesamten EU sieht es im Vergleich zur Eurozone etwas schlechter aus, denn dort arbeiten 17,2 % der Beschäftigten unterhalb der Niedriglohnschwelle, die bei 13,20 € brutto pro Stunde liegt – was jedoch immer noch besser, als in Deutschland ist.
- ARMUT: 12,9 Millionen Menschen (15,7 % der deutschen Bevölkerung) sind hierzulande arm und 16,1 Millionen Menschen (20,0 % der deutschen Bevölkerung) waren im Jahr 2015 laut dem Statistischen Bundesamt von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Knapp 6,39 Millionen Menschen lebten in einem Hartz-IV-Haushalt, einer so genannten „Bedarfsgemeinschaft“ – darunter über 2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Stand: April 2017), was eine Schande für ein angeblich doch so „reiches“ Land, wie Deutschland, ist. Hinzu kommt, dass Kinder aus sozial schwachen Schichten nachweislich signifikant schlechtere Bildungs- und Aufstiegschancen haben, als Kinder von Akademikern: 75 % des Nachwuchses von akademisch gebildeten Eltern studiert an einer Hochschule, während das nur 25 % des Nachwuchses aus Haushalten mit Nichtakademikern schaffen. Die stärkste Trennlinie verläuft zwischen Eltern mit und ohne Abitur: 60 % der Studierenden kommen aus Familien, in denen die Eltern Abitur haben.
- STEUEREINNAHMEN&ÖFFENTLICHE INVESTITIONEN: Deutschland investiert viel zu wenig in seine Infrastruktur und in sein Bildungssystem. Obwohl sich die jährlichen Steuereinnahmen des Bundes in Deutschland seit dem Amtsantritt von Angela Merkel in 2005 um 110 Milliarden € bzw. 58 % signifikant erhöht haben (von 190 Milliarden € in 2005 auf 300 Milliarden € in 2016) ist Deutschland Klassenletzter bei den öffentlichen Investitionen im Quervergleich zu den USA und zum Rest der Eurozone – und dies obwohl z. B. die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland (Straßen, Brücken) für jeden sichtbar langsam verrottet, Deutschland bei der Digitalisierung (z. B. dem Ausbau breitbandiger Mobil- und Festnetze und der Einrichtung von WLAN-Hotspots oder der Einführung von eGovernment) „lahmt“ und Schulen und Universitäten im internationalen Quervergleich bestenfalls noch Mittelmaß sind.
- BILDUNG: Die seit dem Jahr 2000 in dreijährlichem Turnus in den meisten Mitgliedstaaten der OECD und einer zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten durchgeführten PISA-Studien (Programme for International Student Assessment bzw. Programm zur internationalen Schülerbewertung) haben die Schwächen des deutschen Schulsystems – im Quervergleich zu den Schulsystemen anderer Länder – gnadenlos offengelegt. Jahrzehntelange Bildungs- und Erziehungsexperimente (inklusive des „G8“) haben dazu geführt, dass nur noch eine Minderheit der Schulabgänger von deutschen Schulen in der Lage ist, einen einfachen Satz in fehlerfreier deutscher Rechtschreibung zu Papier zu bringen, geschweige denn im Kopf auszurechnen, was „9 x 7“ ist. Unter den weltweit führenden 50 Bildungseinrichtungen befinden sich gerade noch drei deutsche Universitäten – mit der Ludwig-Maximilians-Universität in München als am besten bewertete deutsche Universität auf Platz 30. Laut dem OECD-Bericht „Bildung auf einen Blick 2017 – OECD-Indikatoren“ liegt Deutschland bei den Bildungsausgaben mit knapp 3% deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 3,6% und an neuntletzter Stelle (!) von 38 OECD-Staaten.
- PRIVATWIRTSCHAFTLICHE INVESTITIONEN: Auch die deutsche Privatwirtschaft investiert viel zu wenig: Obwohl die deutschen Unternehmen Rekordgewinne erwirtschaften und obendrein leicht an zinsgünstige Kredite kommen, wird kaum investiert. Das zeigen eindrücklich die Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Die Unternehmensgewinne der deutschen Kapitalgesellschaften (ohne Banken und Versicherungen) haben sich seit 1991 verdreifacht – sie stiegen von 173 Milliarden € in 1991 auf 543 Milliarden € in 2016. Gleichzeitig fielen die die Nettoinvestitionen von 85 Milliarden € in 1991 auf knapp 20 Milliarden € in 2016 – also auf weniger als ein Viertel. Laut Mittelstandspräsident Mario Ohoven schiebt Deutschland einen Investitionsstau von über 140 Milliarden € vor sich her und die Unternehmen leben von der Substanz.
- AUSSENHANDELSÜBERSCHÜSSE: Deutschland exportiert infolge seiner Außenhandelsüberschüsse pro Jahr ca. 250 Milliarden € ins Ausland (entweder in Form von Krediten oder aber in Form von Direktinvestitionen), obwohl dieses Kapital in Deutschland dringend für Investitionen in Bildung und Infrastruktur benötigt würde. Darüber hinaus ist das exportierte Kapital im Ausland erheblichen Ausfallrisiken ausgesetzt: Im Zuge der letzten globalen Finanzkrise zwischen 2006 und 2013 gingen z. B. 600 Milliarden € an deutschem Auslandsvermögen verloren. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stieg das Auslandsvermögen der Deutschen zwischen 2006 und 2012 nur um 600 Milliarden €, obwohl im gleichen Zeitraum 1,2 Billionen € im Ausland angelegt wurden. Die Investoren – vom Kleinsparer über den Mittelständler bis zur Großbank – verloren also 600 Milliarden €, weil ausländische Immobilien oder Aktien an Wert einbüßten. Besonders in den Jahren der globalen Finanzkrise hat Deutschland im Ausland hohe Verluste gemacht, etwa beim Platzen der Immobilienblasen in den USA und in Spanien.
- DIE SCHATTENSEITE DES EURO: Deutschland hat infolge des fehlkonstruierten Eurosystems seit 2008 über 1,6 Billionen € an wackeligen Forderungen und Haftungsrisiken aufgebaut: 860 Milliarden € (Stand: 31.07.2017) unbesicherte und unverzinste TARGET2-Forderungen gegen die Zentralbanken anderer Staaten der Eurozone (im Wesentlichen Italien, Spanien, Griechenland und Portugal) mit monatlich steigender Tendenz plus 590 Milliarden € unzureichend besicherte Haftungsrisiken durch das 2,3 Billionen schwere „Quantitative Easing“-Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) zum Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen plus 159 Milliarden € Haftungsrisiken aus den 600 Milliarden € schweren „Rettungsprogrammen“ für überschuldete Staaten der Eurozone seit 2010 – die letzten beiden Posten jeweils abgeleitet aus dem eingezahlten Anteil der Deutschen Bundesbank in Höhe von 25,5674% am Kapital der Europäischen Zentralbank (EZB). Hinweis: 1,6 Billionen € sind umgerechnet rund 20.000 € (!) für jeden der 82 Millionen deutschen Bürger vom Baby bis zum Greis – und diese wackeligen Forderungen und Ausfallrisiken resultieren ausschließlich aus dem Eurosystem und wurden in den letzten 9 Jahren aufgebaut.
- RISIKEN AUS DEM BANKENSYSTEM: Weitere signifikante Haftungs- und Ausfallrisiken drohen durch die Europäische Bankenunion, die Europäische Arbeitslosenversicherung und durch Eurobonds. In 2012 lag die Summe der Bankschulden in Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Portugal und Irland mit 17 Billionen € um mehr als 200 % höher, als die Summe der Staatsschulden dieser Länder in Höhe von 5,5 Billionen € (aktuellere Zahlen zu den Bankschulden findet man interessanterweise nicht). Nach einer Studie des Ministerrats der Europäischen Union belief sich das Volumen Not leidender (d. h. also ausfallgefährdeter) Kredite bei den Banken aller EU-Staaten Ende 2016 auf rund 990 Milliarden €. Angesichts dieser Zahlen wird schlagartig klar, warum interessierte Kreise in der EU immer lauter nach einer „Bankenunion“ oder gar nach einer „Europäischen Bad Bank“ rufen – man ist wieder mal auf der Suche nach Steuerzahlern, die als nützlichen Idioten missbraucht werden können, um den Privatanlegern ihre selbst verschuldeten Haftungsrisiken abzunehmen.
- FOLGEN VON NULLZINSPOLITIK UND EURO-SCHWÄCHE: Infolge der Niedrig- bzw. Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) sind den deutschen Sparer zwischen 2010 und 2017 per Saldo (nach Abzug der Zinsvorteile durch niedrigere Schuldzinsen) nach Berechnungen der DZ-Bank rund 248 Milliarden € an Zinsen entgangen. Darüber hinaus zahlen die deutschen Konsumenten durch den um zeitweise mehr als 30 % zu niedrigen Außenwert des Euro (1,05 USD/EUR vs. 1,54 USD/EUR laut Berechnungen von JP Morgan als „fair value“ des Euro für Deutschland) viel zu hohe Preise für importierte Konsumgüter (u. a. Smartphones, Haushalts- und Unterhaltungselektronik oder Autos) sowie für Reisen in Länder außerhalb der Eurozone (Nord- und Lateinamerika, Afrika, Asien, Australien).
- RISIKEN AUS DEM GLOBALEN FINANZSYSTEM: Der Wohlstand Deutschlands ist durch erhebliche Risiken aus dem globalen Finanzsystem bedroht, z. B. aus dem Handel mit Derivaten (Handelsvolumen von 630 Billionen bis 1,2 Billiarden USD in 2015 vs. 80,9 Billionen USD weltweite Geldmenge) sowie aus völlig unzureichend regulierten kurzfristigen Spekulationen zu Lasten des Gemeinwohls (z. B. Hochfrequenzhandel, Leerverkäufe, Hedging, Spekulationen mit Rohstoffen oder mit bzw. gegen Währungen sowie kreditbesicherte Derivate, wie CDS, CDO, MBS und ABS, die eine wesentliche Ursache für das Zustandekommen der letzten globalen Finanzkrise waren). Der Eintritt des nächsten globalen Finanzcrashs ist nur eine Frage der Zeit und die Notenbanken (FED, EZB) haben ihr Pulver im Zuge der letzten globalen Finanzkrise durch Senkung der Leitzinsen und billionenschwere Anleihenkaufprogramme bereits verschossen.
Die Liste der Defizite und Fehlentwicklungen ist, wie eingangs erwähnt, leider sehr lang und sie ist noch nicht einmal vollständig. Weitere Details einschließlich Quellenangaben zu den genannten Daten und Fakten findet man in einem separaten Artikel vom Juli 2017 unter dem Titel „Die Deutschen sind die Volltrottel der Globalisierung„. Eine kürzere Fassung mit vier Grafiken, in denen die Entwicklung Deutschlands seit 2001 zusammengefasst ist, findet man in einem Artikel aus dem August 2017 unter dem Titel „Sozio-ökonomische Eckdaten Deutschland„.
Zwischenfazit:
Deutschland geht es also auf makroökonomischer Ebene gut, allerdings profitieren vor allem exportorientierte Unternehmen (bzw. deren Eigentümer und Aktionäre), Vermögende und der Staat vom Wachstum der Umsätze und Unternehmensgewinne, während in den Portemonnaies der Arbeitnehmer und sozial Schwachen wenig von dieser positiven Entwicklung und den Wohlstandszuwächsen ankommt – obwohl der deutsche Staat und seine Sozialversicherungen jährlich rund 918 Milliarden € für Soziales einschließlich Renten und Transferzahlungen ausgeben. Dies führt wiederum zu einer hohen Belastung der Einkommen der Arbeitnehmer (mittleres Einkommen (Median) von 3.000 €/Monat brutto für Arbeitnehmer in Vollzeitbeschäftigung) mit Steuern und insbesondere Abgaben (49,8 % Abzüge bei einem alleinstehenden Arbeitnehmer in Deutschland; der Spitzensteuersatz von 42% greift bereits bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 53.666 € – das entspricht 4.472 €/Monat). Weil auch Sparguthaben seit 2008 keine Zinsen mehr abwerfen, müssen (zu) viele Bürger in Deutschland von der Hand in den Mund leben und sind nicht in der Lage, Privatvermögen aufzubauen oder Wohneigentum zu erwerben (die reichsten 10 % besitzen 60 %, die ärmsten 50 % nur 2,5 % des Privatvermögens). Da die gesetzliche Altersversorgung ihren Namen immer weniger verdient, wäre der Aufbau von Privatvermögen bzw. Erwerb von Wohneigentum, aber dringend notwendig, um zu verhindern, dass zig Millionen von Bürgern in die Altersarmut abrutschen. Und last but not least: Deutschland ist unter dem Strich sicher keiner der großen Profiteure des Euro– vor allem, wenn man die gravierenden Nachteile für Konsumenten (bis zu 30% höhere Kosten für Importprodukte und Reisen) und Sparer (248 Milliarden € Zinsverluste per saldo zwischen 2010 und 2016) sowie die immensen Ausfall- und Haftungsrisiken für den deutschen Steuerzahler in Höhe von 1,6 Billionen € mit in die Betrachtung einbezieht.
Zu den genannten ökonomischen Fehlentwicklungen und Risiken für den deutschen Wohlstand aus dem Währungs- und Finanzsystem kommen Chancen und Risiken aus technologischen Entwicklungen, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft in den kommenden Jahren und Jahrzehnten grundlegend (englisch: „disruptive“) verändern werden. Dazu zählen unter anderem:
- Der wachsende Einfluss US-amerikanischer Plattformunternehmen, wie Apple, Google, Facebook oder Amazon, die Wertschöpfung aus anderen Ländern abziehen und sich einer angemessenen und fairen Besteuerung ihrer Gewinne entziehen.
- Digitalisierung und Automatisierung z. B. durch Roboter/Drohnen mit Künstlicher Intelligenz, die mittelfristig Millionen von Arbeitsplätzen in Dienstleistungsberufen verdrängen werden (z. B. Verkäufer, Berater, Kranken- und Altenpfleger, Fahrer).
- Elektromobilität in Kombination mit CarSharing und dem Autonomen Fahren.
- Zunehmende Vernetzung verschiedener Lebensbereiche, wie z. B. des „Internet of Things“, von Gebäuden oder Fahrzeuge sowie der Energieversorgung (mit einer Vielzahl dezentraler erneuerbarer Energiequellen).
- IT-Sicherheitsrisiken, die aus dieser zunehmenden Vernetzung resultieren (z. B. „Blackouts“ bei der Energieversorgung, Identitätsdiebstahl, Cyber-Terrorismus).
- Blockchain-Technologie mit ihren Auswirkungen z. B. auf die Finanzindustrie durch Eliminierung von Zwischenhändlern (z. B. Banken, Versicherungen).
- Virtual bzw. Augmented Reality oder 3D-Druck
Auch diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig. „Die sozio-ökonomischen Folgen der Digitalisierung“ habe ich im März 2017 in einem separaten Artikel beschrieben. Das Internet ist selbstverständlich kein „Neuland“, wie Frau Merkel in einer Pressekonferenz mit Barack Obama im Juni 2013 zum Besten gegeben hat. Ganz im Gegenteil: Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung (vor allem die stark wachsenden Umsätze und Gewinne US-amerikanischer Plattformunternehmen) sind wesentliche ökonomische Wachstumstreiber im Zeitalter der Globalisierung und die deutschen Unternehmer, aber auch die deutschen Arbeitnehmer, müssen sich diesen Herausforderungen stellen.
Last, but not least werden Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft mit wesentlichen ökologischen und sozialen Entwicklungen konfrontiert, wie dem Klimawandel, der Notwendigkeit zum Schutz von Umwelt und Gesundheit oder den massiven Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Afrika (wobei Letztere entscheidend befeuert werden durch wirtschaftliche Not, Terror und Kriege in den Herkunftsländern, an denen die entwickelten westlichen Staaten unter Führung der USA häufig nicht unbeteiligt sind).
Was bedeutet das nun alles für die Bundestagswahl am 24.09.2017?
Nun, zunächst muss man mit Blick auf die Fakten feststellen, dass es für die zukünftige deutsche Bundesregierung erheblichen Handlungsbedarf gibt und dass unser Land seine Möglichkeiten und Potenziale bei Weitem nicht ausschöpft. In diesem Zusammenhang ist es sehr wichtig, sich nicht von der guten Entwicklung der makroökonomischen Kennzahlen (Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit) blenden zu lassen. Denn die vergleichsweise gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland wurde und wird durch Einflussfaktoren bzw. Rahmenbedingungen wesentlich begünstigt, die von der deutschen Bundesregierung weder herbeigeführt wurden, noch durch sie beeinflussbar sind und die sich jederzeit zu Ungunsten Deutschlands verändern können. Dies sind z. B. der zu niedrige Wechselkurs des Euro, die niedrigen Leitzinsen, der niedrige Ölpreis oder die hohe Nachfrage nach deutscher Technologie aus China und den Schwellenländern. Der zu niedrige Wechselkurs des Euro hat darüber hinaus nicht nur positive Auswirkungen für die deutsche Wirtschaft, denn er hat den Druck von den deutschen Unternehmen genommen, ihre Produktivität kontinuierlich zu steigern und an das internationale Wettbewerbsniveau anzupassen.
Der frühere Caritas-Vorstand Georg Cremer hat in einem sehr lesenswerten SPIEGEL-Interview am 02.08.2017 darauf hingewiesen, dass es verschiedene Arten von Gerechtigkeit gibt und dass eine Diskussion über Gerechtigkeit in Deutschland nur dann zielführend ist, wenn sie differenziert geführt wird (Zitat): „Es gibt nicht eine einzige, sondern verschiedene Gerechtigkeiten: Bei Bürgerrechten wie dem Wahlrecht gilt strikt das Prinzip der Gleichheit. In einer Marktwirtschaft wollen wir Tauschgerechtigkeit, in der Bildung Chancengerechtigkeit. Bei der Entlohnung akzeptieren wir Leistungsgerechtigkeit, zu große Diskrepanzen dämmen wir mit Umverteilung ein, um Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen – hier kann es zu Konflikten kommen, die der Abwägung bedürfen. Würde stärker betont, auf welches Konzept man sich jeweils beruft, würde die Debatte konstruktiver und politischer.
Ein sehr zentrales Konzept geht in der Debatte aber häufig unter: das der Befähigungsgerechtigkeit. Während Chancengerechtigkeit letztlich akzeptiert, dass ein Kind aus gefestigten Verhältnissen der oberen Mittelschicht in seinem Elternhaus bessere Kompetenzen entwickeln konnte und dadurch auch bessere Leistungen in der Schule erbringt, als ein Kind aus prekären Verhältnissen und relativer Armut, ist die Befähigungsgerechtigkeit im Kontrast dazu weit umfassender: Staat und Zivilgesellschaft müssen sich darum sorgen, wie auch das Kind aus prekären Verhältnissen in die Lage versetzt wird, seine Potenziale zu entfalten. Was tun wir also, um den erwiesenermaßen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu lockern? Wir sollten den Sozialstaat konsequent auf diese Befähigungsgerechtigkeit ausrichten – nicht nur für Kinder, sondern für alle.“ (Zitat Ende) Ich finde diese Ausführungen sehr klug und bedenkenswert.
Aus den genannten Gründen ist eine Restrukturierung (ich verwende bewusst nicht den Begriff „Reform“, weil das zu kurz greifen würde) des deutschen Bildungssystems einschließlich zentraler Lehrpläne und Bildungsstandards, die durch alle Bundesländer einheitlich umgesetzt werden, aus meiner Sicht unabdingbar. Im Fokus dieser Restrukturierung sollte die Vorbereitung von Schülern und Studenten auf die zukünftigen Herausforderungen aus der Digitalisierung/Automatisierung stehen. Und im Zuge dessen sollten Maßnahmen getroffen werden, um die Chancen- und Befähigungsgerechtigkeit für Kinder aus sozial schwachen Schichten zu erhöhen (heute studieren drei Viertel der Kinder von Akademikern, aber nur ein Viertel der Kinder von Nichtakademikern).
Der Staat sollte darüber hinaus Vorreiter und Vorbild bei der Digitalisierung sein, indem er z. B. moderne, schlanke, bürgerfreundliche Prozesse unter Nutzung des bereits existierenden elektronischen Personalausweises implementiert oder öffentliche Register (Meldewesen, Führerscheine, Kataster) in Blockchains überführt und Deutschland damit in eine führende Position bei der Nutzung dieser Technologie bringt. Ich sehe auch keinen Grund, warum der deutsche Staat nicht die Möglichkeit zur Nutzung einer staatlichen Kryptowährung für definierte Anwendungsfälle (z. B. Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel bzw. Infrastrukturen oder die Abwicklung von Steuernachzahlungen und -gutschriften) schaffen kann? Das wäre auf jeden Fall ein starkes Signal für den Innovationsstandort Deutschland. Estland ist derzeit Vorreiter bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltungen in der EU und bietet seit 2014 sogar eine „virtuelle Staatsbürgerschaft“ an.
Deutschland wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um sein Wohlstandsniveau einigermaßen zu halten und zumindest die Chancen- und Befähigungsgerechtigkeit zu verbessern. Dabei ist die zukünftige deutsche Bundesregierung für die Rahmenbedingungen verantwortlich und ohne die richtigen Rahmenbedingungen geht es nicht! Das wichtigste Ziel der wohl meisten Eltern, dass es „ihren Kindern einmal bessergehen soll, als ihnen selbst“ ist meines Erachtens für den überwiegenden Teil zukünftiger Generationen aus heutiger Sicht bereits nicht mehr erreichbar.
Die nächste Bundesregierung sollte nicht noch mehr Umverteilung betreiben, sondern sich darum kümmern, so viele Menschen wie möglich unabhängig von ihrer sozialen Herkunft bestmöglich zu qualifizieren und mit hochwertiger Arbeit zu versorgen, die diesen Menschen ein auskömmliches Leben ohne Sozialtransfers ermöglicht. Die mit Abstand wichtigste Aufgabe, die eine neue Bundesregierung angehen und umsetzen muss, besteht daher aus meiner Sicht in massiven öffentlichen und privaten Investitionen zur Sicherung der Zukunft unseres Landes, also hauptsächlich in Bildung und Qualifizierung (Schule, Ausbildung, Studium sowie berufsbegleitende bzw. lebenslange Weiterbildung), in Forschung und Entwicklung (insbesondere im Bereich der Zukunftstechnologien, wie Digitalisierung, Automatisierung, Vernetzung, Robotik, Künstliche Intelligenz, Elektromobilität, erneuerbare Energien) sowie in die Infrastruktur (Verkehr, Kommunikation, Energieversorgung). Nicht kleckern ist dabei angesagt, sondern klotzen! Die Investitionsschwäche sowohl der öffentlichen Hand, als auch der Privatwirtschaft ist tödlich für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Vorschläge zur Einrichtung eines „Staatsfonds“ für Deutschland (analog z. B. zu den Staatsfonds von Norwegen oder Singapur), der durch Zukunftsinvestitionen in die deutsche Infrastruktur den deutschen Außenhandelsüberschuss verringern, die Beteiligung der Bürger am Produktivvermögen fördern und die Altersversorgung der Bürger ergänzen und absichern könnte, gibt es seit Langem, doch sind diese Vorschläge bislang ungehört verhallt. Hinweis: Es gibt in Deutschland nur 4,38 Millionen direkte Aktionäre und zwei Drittel der deutschen Haushalte besitzen weder Aktien, noch Investmentfonds, was einer der Gründe für das im Quervergleich zu anderen EU-Staaten niedrige Privatvermögen ist.
Eine radikale Vereinfachung des Steuerrechts (insbesondere des Einkommen- und Unternehmenssteuerrechts) mit seinen zigtausend Paragraphen und Normen würde dazu beitragen, den Umfang der Steuerhinterziehung und -vermeidung deutlich zu reduzieren und zig Milliarden Euro an zusätzlichen Steuereinnahmen zu generieren. Die Vorschläge für einen einfachen Stufentarif beim Einkommensteuerrecht liegen seit Anfang der 2000er-Jahre auf dem Tisch. Was ist nur aus der „Steuererklärung auf dem Bierdeckel“ geworden, die Friedrich Merz in 2003 angekündigt hat? Wie viel eine solche Reform für den eigenen Geldbeutel bringen würde, kann sich jeder hier selbst ausrechnen: http://n-heydorn.de/steuermodelle_merz_solms_kirchhof. Ein wesentlicher Schritt wäre daher eine Steuerreform bei der sämtliche Ausnahmetatbestände und Subventionen bis auf einen Grundfreibetrag und eine „Vereinfachungspauschale“ gestrichen werden und der bisherige progressive Einkommensteuertarif durch einen Stufentarif, z. B. mit 12 %, 24 % und 36 %, ersetzt wird. Dadurch hätte man ein einfaches, transparentes Steuersystem mit international wettbewerbsfähigen Steuersätzen, wodurch Steuerhinterziehung und Steuervermeidung deutlich zurückgehen würden – vor allem, wenn man zusätzlich die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft koppelt. Diese Maßnahmen würden dem Staat deutlich höhere Steuereinnahmen bescheren.
Im Zuge der Steuerreform sollte auch eine effektive Regulierung der Finanzmärkte erfolgen einschließlich einer angemessenen Besteuerung von kurzfristigen Spekulationen (z. B. Hochfrequenzhandel, Leerverkäufe, kurzfristige Spekulationen mit Rohstoffen und Währungen, kreditbesicherte Derivate), um diese unattraktiv zu machen und Kapital in langfristige Investitionen in die Realwirtschaft zu lenken. Asoziales Spekulantentum zu Lasten des Gemeinwohls (z. B. Cum-Ex, Cum-Cum) sollte gesellschaftlich geächtet und mit drastischen Strafen sanktioniert werden – genauso wie Steuerhinterziehung (Verlagerung von Vermögen in Steueroasen) oder Schwarzarbeit.
Auch im Bereich der Existenzgründung gibt es erhebliches Verbesserungspotenzial. US-amerikanische Unternehmen aus dem Silicon Valley sind nicht nur deshalb erfolgreich, weil die Gründer dort größer und visionärer denken und bereit sind, höhere Risiken in Kauf zu nehmen, sie haben auch Zugriff auf Risikokapital in zehnfachem (!) Volumen des deutschen Risikokapitals (Deutschland: 3,9 Milliarden USD, Silicon Valley: 39 Milliarden USD – Werte jeweils aus 2015) zur Finanzierung ihrer Startups. Das deutsche Wort „Schulden“ leitet sich nicht ohne Grund aus dem Wort „Schuld“ ab: In Deutschland werden Existenzgründer im günstigsten Fall behandelt, wie Bittsteller (vor allem von Banken oder anderen Kreditgebern), im ungünstigsten Fall beschimpft und angefeindet, wenn sie staatliche Förderungen in Anspruch nehmen, im Zuge des Aufbaus ihres Unternehmens Verluste erwirtschaften (und deshalb keine Steuern zahlen) oder wenn sie erfolgreiche Geschäftsmodelle aus den USA kopieren. Wir brauchen daher eine „Existenzgründungsoffensive“, vor allem im Bereich der Digitalisierung und Automatisierung sowie bei Erneuerbaren Energien und Elektromobilität; auch Cyber Security wäre ein lohnendes Thema. Die Existenzgründung in Deutschland muss vereinfacht und effektiv gefördert werden z. B. durch professionelles Coaching, Bereitstellung modernen Shared Office-Infrastrukturen mit leistungsfähigen digitalen Netzen und einfachen Zugang zu deutschem Risikokapital. Diese Maßnahme würde Arbeitsplätze schaffen und dazu beitragen, die Innovationsschwäche – vor allem im Bereich der Digitalisierung – zu überwinden.
Eurokrise (seit 2008) und Flüchtlingskrise (seit 2015) haben in den vergangenen Jahren die menschlichen Abgründe im „Land der Dichter und Denker“ für jeden sichtbar ans Tageslicht befördert. In (un-)sozialen Netzwerken und Diskussionsforen der großen Medien gehen sich „Wutbürger“ und „Gutmenschen“ gegenseitig an die Gurgel und bekämpfen sich bis auf’s Messer. Es rumort im Bauch der Gesellschaft und statt sachlicher, konstruktiver Diskussionen werden häufig ideologische Grabenkämpfe geführt, nicht selten mit dem Ziel, missliebige Meinungen platt zu machen und Andersdenkende zu denunzieren und auszugrenzen. Das Maß an Intoleranz und Radikalität, welches sich dabei insbesondere in den vergangenen beiden Jahren seit Ausbruch der Flüchtlingskrise in 2015 offenbart hat, ist erschreckend (übrigens auf beiden Seiten des politischen Spektrums).
Eine der Ursachen für diese bedauernswerte Entwicklung ist aus meiner Sicht die fehlende Aufrichtigkeit der Politik gegenüber ihren Bürgern. Hand aufs Herz: Wie viele der von mir aufgelisteten Defizite und Fehlentwicklungen waren Ihnen bekannt? Laut einer aktuellen Studie des (arbeitgebernahen) Instituts der deutschen Wirtschaft sind fast zwei Drittel (65,2 %) der Bundesbürger der Ansicht, dass sie zumindest einen „gerechten“ oder gar einen „mehr als“ gerechten Anteil am Wohlstand erhalten. Gut 29 % der Bundesbürger haben den Eindruck, dass ihnen „etwas weniger“ als ein gerechter Anteil zukommt. Und nur knapp 6 % der Bundesbürger sind der Meinung, ihr Anteil am Wohlstand sei „sehr viel weniger“ als gerecht. Dazu passt, dass sich im vergangenen Jahr 79 % der Befragten zur oberen Hälfte der Gesellschaft dazugehörig fühlten, was natürlich unlogisch, wenn nicht gar abstrus, ist. Die von mir aufgelisteten Defizite und Fehlentwicklungen belegen jedoch klar und deutlich: Die gute Entwicklung der deutschen Wirtschaft auf makroökonomischer Ebene hat eine nicht unbeträchtliche Kehrseite – und diese wird von fast allen Politikern geflissentlich verschwiegen, wohl nicht zuletzt, da ihre Parteien in wechselnden Koalitionen in den vergangenen 40 Jahren für das Zustandekommen dieser Defizite und Fehlentwicklungen (mit) verantwortlich waren.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass im Zuge der Bewältigung der globalen Finanzkrise (einschließlich Banken-, Staatsschulden- und Eurokrise) in den vergangenen rund 10 Jahren seit 2008 jegliches Maß verloren gegangen ist, da nur noch mit zwei- bzw. dreistelligen Milliardenbeträgen oder gar Billionenbeträgen hantiert wurde. Laut Bundesarbeitsministerium soll die Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze ab 01.01.2017 um 5 (!) € pro Monat von 404 € pro Monat auf 409 € pro Monat (Paare: 368 €/Monat pro Partner statt 364 €/Monat pro Partner) zu jährlichen Mehrkosten in Höhe von 470 Millionen € im Vergleich zum Vorjahr führen. Für Griechenland läuft parallel seit 2015 ein „Rettungspaket“ im Volumen von 86 Milliarden € – mit einem deutschen Haftungsanteil von rund 22 Milliarden € (entsprechend dem eingezahlten Anteil der Deutschen Bundesbank in Höhe von 25,5674% am Kapital der Europäischen Zentralbank). Die Angaben zu den jährlichen „asylbedingten Kosten“ für Deutschland schwanken zwischen 21,7 Milliarden € und 55 Milliarden € pro Jahr (das sind 7,2 % bis 18,3% der jährlichen Steuereinnahmen des Bundes). Ich verstehe, dass man solche Gegenüberstellungen für unschicklich oder gar populistisch halten kann – was allerdings wiederum viele Hartz IV-Empfänger als plumpen Versuch empfinden dürften, unbequeme Diskussionen mit der „Political Correctness“-Keule im Keim zu ersticken.
Dies führt mich zu einem sehr wichtigen Thema, bei dem sich die nächste Bundesregierung in den kommenden 4 Jahren nicht mehr vor wichtigen Entscheidungen drücken kann: Die Gemeinschaftswährung Euro ist aus Sicht vieler Fachleute nur dann zu halten, wenn man sie grundlegend reformiert und ihre Geburtsfehler beseitigt – entweder durch Umwandlung in eine Transferunion, temporären Austritt von Staaten mit zu schwacher Wettbewerbsfähigkeit oder sogar Aufteilung der Eurozone in zwei getrennte Währungsgebiete, in denen jeweils Länder mit ähnlicher Wirtschafts- und Währungskultur zusammengefasst werden. Jeder Bürger, der bei einigermaßen klarem Verstand ist, weiß das – nur die Bundesregierung betreibt unverdrossen Realitätsverweigerung in Tateinheit mit Insolvenzverschleppung, hangelt sich von einem „Rettungspaket“ für Griechenland (oder sind es die eigenen Banken?) zum nächsten und schaut tatenlos zu, wie die unbesicherten und unverzinsen TARGET2-Forderungen der deutschen Bundesbank Monat für Monat auf neue Rekordstände steigen (und mit ihnen die Ausfallrisiken für den deutschen Steuerzahler).
Der britische Ökonom Roger Bootle vertritt laut einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 09.09.2017 unter der Überschrift „Der Euro hat in dieser Form keine Zukunft“ dazu folgende Ansicht: „Der Großteil der Länder weltweit sei nicht Teil der EU und betreibe trotzdem erfolgreich Handel. Zudem habe Grossbritannien gezeigt, dass das ökonomische Gesetz nicht stimmen muss, wonach ein Land angeblich am erfolgreichsten mit seinen Nachbarländern Handel treibt. Die britischen Exporte in andere EU-Länder sind von 55% vor fünfzehn Jahren auf unter 45% geschrumpft; die Quelle des Exportwachstums hat sich nach China und Indien verschoben. Oft werde angeführt, ohne die EU fehle Grossbritannien in Verhandlungen das Gewicht. Die EU sei zwar gross, aber durch ihren Aufbau extrem unflexibel. In ihrer Geschichte habe sie sich als schlechter Verhandler in Handelsabkommen erwiesen. Gewisse Länder wie Frankreich neigten zudem zum Protektionismus.“
Die deutschen Bürger wurden vor 20 Jahren nicht gefragt, ob sie den Euro haben wollen, weil Helmut Kohl genau wusste, dass sie dies mehrheitlich ablehnen würden. Die überstürzte Einführung einer fehlkonstruierten Währung um die Jahrtausendwende, ohne die notwendige wirtschafts- und finanzpolitische Integration der beteiligten Staaten, hat insbesondere in den vergangenen rund 10 Jahren seit Ausbruch der globalen Finanzkrise zu erheblichen Verwerfungen in der Eurozone, wie auch in der EU geführt. Diese Verwerfungen haben den Prozess der europäischen Einigung um Jahrzehnte zurückgeworfen. Deutschland ist vergleichsweise glimpflich aus der globalen Finanz- und Eurokrise herausgekommen, die Mittelmeerstaaten haben die Krise jedoch immer noch nicht überwunden. Die Eurokrise hat längst überwundene Vorurteile und sogar Hass z. B. zwischen Deutschen und Griechen wieder aufflammen lassen und man kann getrost davon ausgehen, dass das BREXIT-Votum der Briten ohne Euro- und Flüchtlingskrise mit großer Wahrscheinlichkeit so nicht zustande gekommen wäre.
Bevor also weitere Billionen deutscher Steuergelder für Eurobonds, Bankenunion oder europäische Arbeitslosenversicherung verschleudert oder zumindest erheblichen Ausfallrisiken ausgesetzt werden, sollte die nächste deutsche Bundesregierung unmittelbar nach der Bundestagswahl eine offene und ehrliche Diskussion darüber initiieren, welche Rolle Deutschland in Europa zukünftig wahrnehmen will und was das für die deutschen Bürger und insbesondere die deutschen Steuerzahler konkret bedeuten würde. Die deutschen Bürger sollten die Möglichkeit haben, am Ende dieser Diskussion im Rahmen eines Referendums darüber abzustimmen, in welche Richtung aus ihrer Sicht die Reise gehen soll – und zwar sehenden Auges und mit allen (vor allem finanziellen) Konsequenzen. Man könnte mit dieser Maßnahme extremen Parteien den Wind aus den Segeln nehmen und vielleicht sogar den Grundstein für eine neue Diskussionskultur in Deutschland legen bzw. viele Politikverdrossene wieder zurück an die Wahlurnen holen.
Ohne kompetente, unabhängige, geradlinige, weitsichtige und vor allem mutige Politiker, die eine klare Vorstellung zu der Frage entwickeln, wie unser Land in 30 Jahren aussehen soll, die die Folgen ihres Handelns bis zum Ende durchdenken, daraus konkrete Maßnahmen ableiten und ihren Bürger reinen Wein einschenken, kann Deutschland in einer zunehmend vernetzten und globalisierten Welt nur verlieren. Die deutschen Bürger einschließlich der nachkommenden Generationen verdienen weder eine „Politik der ruhigen Hand“, noch einsame ereignisgesteuerte Entscheidungen aus wahltaktischen Motiven (wie nach dem Reaktorunfall von Fukushima). Stattdessen sollten der zukünftige deutsche Regierungschef und seine Regierungsmannschaft in der Lage sein, ihre Bürger zu überzeugen, zu motivieren oder vielleicht sogar zu begeistern durch eine klare, ideologiefreie politische Zukunftsvision, die sich am Gemeinwohl unseres Landes orientiert, und bei der Chancen- und Befähigungsgerechtigkeit für sozial Benachteiligte genauso wichtig ist, wie das Wohlergehen von Wirtschaft, Reichen und Staat. „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“ forderte Bundespräsident Roman Herzog in seiner Berliner Grundsatzrede am 26.04.1997. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, brauchen wir diesen „Ruck“ vielleicht dringender denn je, um unser Land auf die Zukunft vorzubereiten, indem wir vorhandene, brach liegende Potenziale erschließen und zum Wohle unseres Gemeinwesens nutzbar machen. Auskömmliche, hochwertige und sichere Arbeitsplätze sind ist die sozialste Form von staatlicher bzw. unternehmerischer Fürsorge – im Gegensatz zu Sozialtransfers, mit denen nur die Schäden einer falschen Politik nachträglich kaschiert bzw. repariert werden.
Da leider keine der wählbaren politischen Parteien bzw. führenden Politiker meinen Anspruch an gute, vorausschauende und nachhaltige Politik erfüllt und der Wahlkampf hauptsächlich mit fragwürdigen Versprechen für soziale Wohltaten zum Nutzen der eigenen Wählerklientel oder inhaltsleeren Modernisierungsparolen betrieben wird, bleibt mir am 24.09.2017 wohl nichts Anderes übrig, als einen ungültigen Stimmzettel abzugeben oder aus Verlegenheit, das kleinste Übel zu wählen. Aber mal ehrlich: Wer möchte schon vom kleinsten Übel regiert werden?
P.S.: Der Satz „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ stammt nicht von Helmut Schmidt und er ist im Übrigen grundfalsch!