Ich möchte gleich zu Beginn dieses Artikels bekennen, dass ich kein Anhänger der globalen Finanzindustrie mit ihren inhärenten Exzessen und Perversionen bin. Meine Skepsis wird im Wesentlichen dadurch begründet, dass wir in den vergangenen 45 Jahren viel zu viele asoziale, unmoralische oder sogar illegale Vorfälle mit starkem negativen Einfluss auf die Realwirtschaft erleben mussten, die durch die Finanzindustrie verursacht wurden. In vielen Fällen hatten die Steuerzahler die Rechnung dafür zu bezahlen. Wesentliche Beispiele für diese Vorfälle sind:

  • Das Platzen der US-Subprime-Blase in 2007/2008 als Folge von undurchsichtigen Transaktionen mit „Credit Default Swaps (CDS)“ (diese Derivate wurden von Warren Buffet bereits in 2003 als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ bezeichnet), „Mortgage Based Securities (MBS)“, „Asset Backed Securities (ABS“) und „Collaterized Debt Obligations (CDO)“, die von US-amerikanischen Rating-Agenturen mit falschen Kreditratings versehen wurden – dies war der Ausgangspunkt der letzten globalen Finanzkrise, unter deren Folgen Europa immer noch leidet.
  • Der Zusammenbruch der „dot-com“-Blase in 1999/2000, der die Aktionärskultur z. B. in Deutschland nachhaltig beschädigte (nach dem Zusammenbruch fiel die Anzahl der Aktienbesitzer in Deutschland von 6,2 Millionen in 2000 auf 3,6 Millionen in 2008).
  • Die so genannte „Asienkrise“ in 1997/1998 verursacht durch Hedgefonds (z. B. des selbsternannten „Philanthropen“ George Soros), die gegen die Thailändische Währung „Bath“ spekulierten und das globale Finanzsystem in die Nähe einer Kernschmelze brachten.
  • Bereitstellung und Betrieb von illegalen oder zumindest unmoralischen Steuersparmodellen mit oder ohne Nutzung von Offshore-Centern (z. B. Virgin Islands, Seychelles, Cayman Islands, St. Kitts und Nevis, Liechtenstein, Panama, Bahamas, Delaware), die zur einer Steuervermeidung in Größenordnung von 100 Milliarden Euro pro Jahr allein in Deutschland beitragen (Hinweis: In 2012 verwalteten Privatbanken ein weltweites Fondsvermögen 19,3 Billionen USD – davon lagen 42% bzw. 8,3 Billionen USD in Offshore-Centern).
  • Absichtliche Umgehung von Gesetzen, z. B. durch so genannte „Cum-Ex“- und „Cum-Cum“-Geschäfte, um sich unrechtmäßig Steuererstattungen auf Kapitaleinkünfte zu ergaunern – was alleine dem deutschen Steuerzahler nach neuesten Berechnungen des Finanzwissenschaftlers Christoph Spengel von der Universität Mannheim zwischen 2001 und 2016 Verluste in Höhe von 31,8 Milliarden Euro bescherte.
  • Kriminelle Manipulationen des LIBOR (London Interbank Offered Rate) durch die Barclays Bank und bis zu 20 andere Banken, die in 2011 aufgedeckt wurden.
  • Gewaltige Manipulationen der Rohstoffpreise (z. B. für Öl, Getreide, Kaffee, Kakao) unter Nutzung spekulativer Wetten, z. B. durch Goldman Sachs.
  • Die Manipulation von Aktienkursen durch den computergestützen Hochfrequenzhandel oder „Short Selling“ beginnend ab 1985 und massiv ausgeweitet um das Jahr 2000 in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit von hochperformanten Computer-Handelssystemen und komplexen Algorithmen für den Computerhandel.
  • Die Umgehung von existierenden Regulierungsvorschriften für die Finanzindustrie, an die sich der traditionelle Bankensektor halten muss, durch Vermögensverwalter (wie BlackRock, Vanguard oder Fidelity), Private Kreditfonds (wie Goldman Sachs Mezzanine, TEC Direct Lending Fund oder KKR Lending Partners) oder so genannte „Crowdfunding“-Plattformen (wie Kickstarter, GoFundMe oder IndieGoGo). Der Schattenbankensektor hatte laut dem US-amerikanischen „Financial Stability Board (FSB)“ in 2014 bereits eine Größenordnung von 80 Billionen USD (versus 136 Billionen USD, die durch den traditionellen Bankensektor verwaltet wurden) und vergibt in den USA heutzutage bereits jedes zweite Darlehen.
  • So genannte „Swap-Geschäfte“ mit Währungen, die z. B. durch Goldman Sachs benutzt wurden, um die tatsächliche wirtschaftliche Situation von Griechenland zu verschleiern; dies erlaubt es dem Land, der Eurozone am 01.01.2001 beizutreten, obwohl es für die Euro-Einführung überhaupt nicht gerüstet war.
  • Die Verlagerung von Kreditrisiken in einer Größenordnung von mehreren hundert Milliarden Euro resultierend aus den griechischen Staatsschulden von privaten „Investoren“ auf die Steuerzahler des Eurozone zwischen 2010 und 2012.
  • Beispiellose Währungsmanipulationen des Euro-Kurses durch die Europäische Zentralbank (EZB) in Größenordnung von 2,3 Billionen Euro (das ist mehr als das Bruttoinlandsprodukt von Frankreich, Italien oder Spanien) in Form des „Quantitative Easing“-Programms mit erheblichen negativen Auswirkungen auf Kleinsparer, Rentner und Steuerzahler (Wichtig: Da diese Manipulationen teilweise experimentellen Charakter haben, ist unabsehbar, was die langfristigen Folgen sein werden – neben größer und größer werdenden Blasen in den Aktien- und Immobilienmärkten, die bereits entstanden sind).

Diese Liste ist bei Weitem nicht vollständig. Lesenswert, um umfangreichere und detailliertere Informationen zu erhalten, sind zum Beispiel Matt Taibbis Artikel  „The Great American Bubble Machine“ (http://www.rollingstone.com/politics/news/the-great-american-bubble-machine-20100405) und „Secrets and Lies of the Bailout“ (http://www.rollingstone.com/politics/news/secret-and-lies-of-the-bailout-20130104).

Die negativen Konsequenzen dieser asozialen, unmoralischen oder kriminellen Machenschaften der globalen Finanzindustrie auf unser Gesellschaften, Ökonomien und Demokratien sind signifikant und desaströs. Sie erzeugen riesige Ungleichgewichte in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, Blasen in Aktien-, Immobilien- und Rohstoffmärkten und sind das schlechteste Vorbild für den Durchschnittsbürger, das man sich vorstellen kann.

Warum sollte „Otto Normalverbraucher“ sich noch an Gesetze und Verträge halten (und z. B. brav seine Steuern zahlen, Kredite zurückzahlen oder die negativen Folgen seines wirtschaftlichen Handelns als Unternehmer oder Privatperson tragen), wenn das die Finanzindustrie nicht tut? Die „Rettung“ von Banken mit Steuergeldern im Verlauf der letzten globalen Finanzkrise – gerechtfertigt mit dem lächerlichen Argument, dass diese Banken „systemrelevant“ und „zu groß seien, um sie scheitern zu lassen“ („too big to fail“) – war ein fatales negatives Signal für das Engagement, die Verpflichtung und den Gerechtigkeitssinn jedes einzelnen Bürgers, der dem Gemeinwohl dient.

Dies gilt umso mehr, da fast alle Protagonisten der Finanzindustrie, die dieses asoziale, unmoralische oder kriminelle Verhalten während der vergangenen 45 Jahre gezeigt haben, aus Sicht der Rechtssprechung offensichtlich auch zu groß waren, um sie ins Gefängnis zu stecken („too big to jail“), was ein noch fataleres Signal für Otto Normalverbraucher ist – zumal jeder kleine Arbeiter und Angestellte durch die Behörden und die Justiz akribisch verfolgt und bestraft wird, wenn er auch nur versuchen sollte, bei seiner Steuererklärung zu mogeln oder die Verkehrsregeln zu missachten.

Ich bin davon überzeugt, dass der Aufstieg von extremen rechten oder linken Parteien bzw. Politikern in vielen europäischen Ländern, wie auch in den USA, wesentlich durch die rücksichtslosen Verfehlungen der Finanzindustrie auf Kosten von „kleinen Leuten“ und Steuerzahlern während der letzten Jahrzehnte beeinflusst wurde.

Um diese gravierenden asozialen, unmoralischen oder kriminellen Verfehlungen und die daraus resultierenden negativen Folgen für unsere Gesellschaften, Ökonomien und Demokratien zukünftig zu verhindern, müssen Regierungen und Regulierungsbehörden die Spielregeln ändern und die globale Finanzindustrie in Ketten legen, so dass sie keine andere Wahl mehr hat, als sich auf langfristige, nachhaltige Investitionen mit positivem Einfluss auf die Realwirtschaft zu konzentrieren, sich an Gesetze und Regeln zu halten und endlich Verantwortung für unsere Gesellschaft zu zeigen. Bislang stand vor allem die Erhöhung der Eigenkapitalquoten der Banken aus dem traditionellen Bankensektor im Fokus der Regulierungsbehörden sowie die Verbesserung der Effektivität des Risikomanagements dieser Banken – das reicht aber bei weitem nicht aus. Viel wichtiger ist es, der globalen Finanzindustrie (einschließlich des Schattenbankensektors) die Instrumente aus der Hand zu nehmen, mit denen sie Schaden anrichten kann.

Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich habe absolut kein Problem mit wirtschaftlich erfolgreichem Unternehmertum, ich gönne jeder erfolgreichen Person die Früchte ihrer harten Arbeit und ich behaupte nicht, dass jeder, der in der Finanzindustrie arbeitet, kriminell ist oder grundsätzlich unmoralische Absichten hegt. Es sollte jedoch selbstverständlich sein, dass jeder, der die Vorteile unserer Gesellschaften und Demokratien für sich nutzt, sich ausnahmslos auch an deren Gesetze und Regeln hält und seine Geschäfte in einer Art und Weise betreibt, die die moralischen Werte und Grundlagen unserer Gesellschaften und Demokratien respektiert.

Darüber hinaus bin ich davon überzeugt, dass Banken und vergleichbare Finanzinstitute auf ihre ursprünglichen Aufgaben beschränkt werden sollten, also das Management von Geldtransaktionen und die vorübergehende Bereitstellung von Liquidität für Unternehmen und Privatpersonen. Kurzfristige Spekulationen  mit Firmen, Währungen oder Rohstoffen sollten wesentlich erschwert oder noch besser komplett verboten werden, während langfristige Investitionen mit nachhaltigen Zielen und positivem Einfluss auf die Realwirtschaft gefördert werden sollen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass fast alle wesentlichen Instrumente für kurzfristige Spekulationen oder andere Finanzmanipulationen mit negativen Auswirkungen auf unsere Gesellschaften, erst während der letzten 45 Jahre erfunden, eingeführt oder zumindest missbraucht und pervertiert wurden – als Folge von verhängnisvollen Deregulierungen, die durch die US-Präsidenten Carter, Reagan, George Bush, Clinton and George W. Bush und verschiedene europäische Staatsoberhäupter (z. B. Margret Thatcher, John Major, Tony Blair, Helmut Kohl, Gerhard Schröder) in Kraft gesetzt wurden.

Die Finanzindustrie hat ihren durch die Deregulierungen massiv erweiterten Spielraum genutzt, um Instrumente für kurzfristige Spekulationen und andere Finanzmanipulationen einzuführen, aufzurüsten oder auszuweiten, wie z. B. computergestützten Hochfrequenzhandel, Short Selling, Hedging, Spekulationen mit Rohstoffen oder mit bzw. gegen Währungen basierend auf Long bzw. Short Equity-Modellen, Credit Default Swaps (CDS), Asset Backed Securities (ABS) einschließlich Collateralized Debt Obligations (CDO), steuervermeidende Transaktionen unter Nutzung von Offshore-Centern und so weiter …

All diese aufgelisteten Instrumente sind weder gottgegeben, noch wird das globale Finanzsystem zusammenbrechen, wenn diese Instrumente streng reguliert oder sogar verboten werden. Im Gegenteil: Eine wesentliche Vereinfachung des globalen Finanzsystems und seiner Instrumente in Kombination mit einer Harmonisierung und Vereinfachung unser Steuersysteme hätte einen gesunden und positiven Einfluss auf die Weltwirtschaft. Unsere Weltwirtschaft sollte unter keinen Umständen ein Spielplatz für skrupellose Spieler und Wetter sein. Leute, die spielen und wetten wollen, sollten ihre Triebe im Spielkasino mit ihrem eigenen Geld auf eigenes Risiko befriedigen – und nicht mit der Weltwirtschaft auf Kosten der Steuerzahler.

Die Erfahrungen der letzten 45 Jahre (mit Richard Nixons kolossaler Fehlentscheidung, in 1971 die Goldbindung des US-Dollars an den Goldpreis aufzuheben als Ausgangspunkt) zeigt, dass die Finanzindustrie weder willens, noch in der Lage ist, die vorgenannten Anforderungen auf freiwilliger Basis zu erfüllen. Stattdessen muss die Finanzindustrie durch Regierungen und Regulierungsbehörden (die nicht durch Lobbyisten infiltriert und korrumpiert sind) wirksam in Ketten gelegt werden – und diese Ketten sollten so stark wie möglich sein.

Der britische Journalist und Novellist John Lanchester („The Capital“) sagte in 2012: „Das Finanzsystem in seiner derzeitigen Verfassung stellt eine existenzielle Bedrohung für die westlichen Demokratien dar – viel größer, als jede terroristische Bedrohung“. Keine Demokratie wurde jemals durch Terrorismus destabilisiert, aber wenn die Geldautomaten aufhören, Geld auszugeben, wäre das ein Ereignis in einer Größenordnung, das die heutigen demokratischen Staaten dem Risiko eines Zusammenbruches aussetzen würden.“.

Es ist höchste Zeit für einen Kurswechsel …

 

P.S.: Zwei ergänzende Blogs würde ich Ihnen abschließend gerne ans Herz legen:

  1. „Ungleichland und seine Folgen“ vom 08.05.2018: https://kubraconsult.blog/2018/05/08/ungleichland-und-seine-folgen/ (englische Fassung vom 11.05.2018: https://kubraconsult.blog/2018/05/11/unequal-land-and-its-consequences/).
  2. „Die Lebenslügen des Euro“ vom 08.07.2018: https://kubraconsult.blog/2018/07/09/die-lebensluegen-des-euro/ (englische Fassung vom 26.07.2018: https://kubraconsult.blog/2018/07/24/the-life-lies-of-the-euro/)
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